Spätestens seit der Wahl Donald Trumps ist klar: Das Internet ist zu einem der wichtigsten politischen Schlachtfelder geworden und nach wie vor tun sich Linke und Antifaschist_innen schwer auf diesem Feld adäquate Handlungsmöglichkeiten und Gegenstrategien zu finden. Die strategische Nutzung von sozialen Medien war und ist von entscheidender Wichtigkeit für die Alt-Right Bewegung in den USA, für Rechtspopulisten und die Neue Rechte in Europa, sowie für die sich neu formierenden rechten und neofaschistischen Kräfte weltweit. Eine PEGIDA-Kundgebung, egal wie klein, ohne diverse Livestreams ist kaum vorstellbar. Hierbei geht es den rechten Medienmacher_innen von Alt-Right bis AfD vor allem um Deutungshoheit und Diskurs-Bestimmung. Doch zunehmend lässt sich in sozialen Medien und ganz speziell auf YouTube noch eine andere Strategie beobachten. Rechte YouTuber_innen und Parteien nutzen ihre vorgebliche ‚Berichterstattung‘ als Waffe, um politische Gegner_innen einzuschüchtern, zu diffamieren, bloßzustellen oder auszuspionieren. Diese neue ‚YouTube-Anti-Antifa‘ mischt vermeintlichen Journalismus, Satire und Mutprobe mit aggressiver Einschüchterung politischer Gegner_innen. Rechtsradikale YouTuber_innen schlendern mit Selfie-Stick über linke Stadtteilfeste in Berlin, mischen sich unter Demonstrant_innen bei den G20-Protesten oder setzen sich auf offene Antifa-Treffen um später über ihre ‚Inside-Antifa‘-Erfahrungen zu berichten. Die AfD schickt inzwischen regelmäßig professionelle Kamerateams in den Gegenprotest vor ihren Veranstaltungen, um Antifaschist_innen zu Diskussionen, Interviews oder zumindest Statements vor der Kamera zu bewegen und diese hinterher, teils grotesk zusammengeschnitten und mit Zirkusmusik unterlegt, auf den eigenen Facebook-Seiten und YouTube-Kanälen zu präsentieren. In einem aktuellen Fall aus Berlin Reinickendorf hetzte die AfD wochenlang gegen den Teilnehmer einer Protestkundgebung, bis er und seine Familie nicht nur im Internet, sondern auch in der direkten Nachbarschaft massiv persönlich bedroht wurden.
Anti-Antifa und YouTube
Im Vorfeld der Welcome To Hell Demonstration in Hamburg 2017 wurden eine Gruppe rechter YouTube-Aktivist_innen von Antifas erkannt und in der Folge aus der Demo befördert. Es handelte sich um den rechten US-Journalisten Tim Pool, den deutschen YouTuber Max Bachmann, Luke Rudkowski, dessen YouTube-Kanal ‚We Are Change‘ vor allem rechte Verschwörungstheorien verbreitet und die kanadische Medien-Aktivistin und YouTuberin Laurin Southern, die zwei Monate zuvor noch mit Aktivisten der Identitären Bewegung während der Aktion ‚Defend Europe‘ versuchte, NGO-Schiffe auf dem Mittelmeer zu stoppen. Luke Rudkowski hat gute Kontakte nach Berlin, hielt sich 2014 eine Zeit lang im Umfeld der Organisatoren der Berliner ‚Mahnwachen‘ um Lars Mährholz auf und veröffentlichte 2017 ein Video mit dem Regionalleiter der IB Berlin-Brandenburg Robert Timm. Da das Team nur kurz auf der Demo unterwegs war, bevor sie entdeckt und entfernt wurden, lässt sich über das geplante Format ihrer Recherche nur spekulieren. Doch auch die wenigen Sequenzen, die vor und während ihres Outings entstanden, nutzten sie, um in diversen Blog- und Video-Beiträgen auf zahlreichen rechten Plattformen Stimmung gegen Antifaschist_innen zu machen.
Der wohl mittlerweile bekannteste rechtsradikale YouTuber aus Berlin ist der ehemalige Grundschullehrer Nikolai Nerling, der auf YouTube als ‚Der Volkslehrer‘ mit einem unsympathischen Dauergrinsen völkischen Rassismus und antisemitische Verschwörungstheorien mit Erlebnisberichten von Demonstrationen und Veranstaltungen in ganz Deutschland mixt. Vom Besuch beim Neonazi-Festival in Ostritz bis zu Auftritten auf Kundgebungen für die Freilassung der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck, Nikolai Nerling ist inzwischen nicht nur Dauergast, sondern wichtiger Redner und Akteur der Neonazi-Szene. Zuletzt veranstaltete er mehrmals einen sogenannten ‚Reichstanz‘ auf der Wiese vor dem Reichstag in Berlin und am 19. Januar 2019 seine erste Kundgebung unter dem Motto ‚Für deutsche Kultur in Deutschland‘. Doch auch auf linken und antifaschistischen Veranstaltungen taucht Nerling gelegentlich auf, um dort seine Videos zu drehen. Am 22.10.2017 provozierte und filmte er die Teilnehmer_innen der Demo ‚Gegen Hass und Rassismus‘ im Berliner Regierungsviertel. Am 03.09.2018 besuchte er Chemnitz anlässlich des, nach den rassistischen Ausschreitungen organisierten, Konzerts gegen Rechts ‚#wirsindmehr‘. Nachdem er dort von mehreren Antifas erkannt wurde, trat er schließlich den Rückzug an. Einen weiteren Anlauf startete Nerling am 19.9.2018, als er versuchte das antirassistische Fest ‚Tag der Zivilcourage‘ in Berlin Wedding zu stören. Bereits im Vorfeld meldete sich Nerling telefonisch bei den Veranstalter_innen mit der Bitte auf dem Fest einen Redebeitrag halten zu dürfen, was ihm verweigert wurde. Zum Fest tauchte er zusammen mit dem Berliner YouTuber, Neonazi und Reichsbürger Dennis Ingo Schulz auf. Nach dem Besuch einiger Stände wurde Nerling erkannt und des Platzes verwiesen. Am Rande des Festes provozierte er weiter, u.A. mit einem Schild mit der Aufschrift „In der BRD wird eine Minderheit extrem diskriminiert. Ihre Gegner nennen sie: ‚Nazis’“. Der Tag endete für Nerling schließlich im polizeilichen Gewahrsam. Selbst ein Outing durch Antifaschist_innen in der Nachbarschaft im August 2018 hielt Nerling nicht von solchen ‚Besuchen‘ auf linken Veranstaltungen ab. Eher scheint ihm hierbei inzwischen sein medialer Bekanntheitsgrad einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Sowohl die Situation beim G20-Protest, als auch Nerlings letzte Anläufe, linke Veranstaltungen zu stören, zeigen dass es durchaus wirksame Gegenstrategien geben kann, sofern rechte YouTuber_innen frühzeitig erkannt werden. Dazu gehört ein grundsätzliches Bewusstsein dafür, dass filmende Menschen auf Demos und Veranstaltungen, egal ob mit Smartphone oder Profi-Equipment, nicht nur Journalist_innen oder Mitdemonstrant_innen sein können. Im besten Fall werden rechte YouTuber_innen oder Videoteams erkannt, bevor sie loslegen können.
Doch auch ohne Smartphone oder Kamera in der Hand tauchen Rechte vermehrt auf offenen Treffen und Veranstaltungen auf. Mitte November 2018 wurde ein AfDler auf einer linken Veranstaltung in Stuttgart erkannt und verjagt. Ein offenes Antifa-Treffen in Berlin zum Thema ‚antifaschistischer Selbstschutz‘ wurde im September 2018 von der rechten YouTuberin Carolin Matthie besucht. Unter dem Titel ‚Inside Antifa‘ berichtete sie am nächsten Tag, in einem über eine Stunde langen Video, ausführlich von dem Treffen. Im Dezember 2018 veröffentlichte sie außerdem ein Video über ihren Besuch einer linken Podiumsdiskussion zu rechten Angriffen auf politische Gegner_innen. Carolin Matthie studiert Informatik und Physik an der Humboldt-Universität (Campus Adlershof) in Berlin, modelt semiprofessionell und bespielt als rechte Influencerin mit Fotos, Daily-Vlogs und Videos zu Waffen und rechten Demonstrationen praktisch alle Social-Media Kanäle. Nachdem sie die letzten Jahre als Aushängeschild der ‚German Rifle Association‘ galt, drehen sich ihre neueren Videos um Migration, die AfD und ihren Alltag als Studentin. Am 27. Mai 2018 besuchte sie die AfD-Großdemonstration im Regierungsviertel und am 3. Oktober 2018 den ‚Tag der Nation‘ von ‚Wir für Deutschland‘. Als ‚Miss Pirinçci‘ tauchte sie im März 2018 in der Akif Pirinçci Spezialausgabe des COMPACT Magazins auf. Seit Mitte 2018 ist Carolin Matthie Mitglied der AfD und wurde am 24. November 2018 in den Vorstand der AfD Treptow-Köpenick gewählt.
Video-Teams und Strategien der AfD
Bei der AfD ist das Abfilmen des antifaschistischen Gegenprotests mittlerweile fester Bestandteil der Anti-Antifa-Strategie der Partei. Teilnehmer_innen von Protestkundgebungen sollen während dieser, durch das unnachgiebige Bedrängen mit Mikrofon und Kamera, von AfD-Videoteams eingeschüchtert werden. Menschen, die den Fehler machen, vor den Kameras der AfD Interviews zu geben, werden später im Internet vor der eigenen rechten Bubble an den Pranger gestellt und wahlweise als Beispiel des ‚uninformierten, ferngesteuerten Gutmenschen‘ oder des ‚gewalttätigen Antifa-Randalierers‘ vorgeführt. Dies kann in manchen Fällen so weit gehen, dass private Informationen und Fotos zu den Personen z.B. auf deren Facebook-Accounts recherchiert und in AfD-Videos veröffentlicht werden. Roger Beckamp von der AfD Köln hat sich der ‚Kontaktaufnahme‘ mit Antifaschist_innen besonders verschrieben. In mittlerweile zahlreichen AfD-Videos bedrängt der Rechtsanwalt mit Mikrofon und Kamera linke Demonstrant_innen und Presse-Vertreter_innen, um mit diesen ‚ins Gespräch zu kommen‘. Ein besonders widerliches Beispiel von Video-Mobbing durch die AfD ging im Oktober 2018 durch die Berliner Medien. Die AfD hatte im September 2018 zu einem ‚Bürgerdialog‘ in die Bettina-von-Arnim-Schule im Märkischen Viertel geladen. Dagegen demonstrierten vor der Schule zahlreiche Eltern, Lehrer_innen und Schüler_innen. Stefan Franz Kerker, bildungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, war vor der Schule mit einem Kameramann unterwegs, um die dort protestierenden Menschen abzufilmen. Ein anwesender Familienvater mit Migrationshintergrund ließ sich auf ein Gespräch mit Kerker ein, äußerte aber vorher klar, dass er nicht möchte, dass die AfD das Gespräch veröffentlicht. Daran hielt sich die AfD natürlich nicht. Kurze Zeit später veröffentlichte die AfD-Fraktion des Abgeordnetenhauses Berlin das Interview in einem Video mit dem Titel ‚AfD im Dialog mit der Antifa‘ auf YouTube und Facebook. Im Video wurde das Interview zu teils sinnlosen Satzfragmenten zerstückelt und mit Zirkusmusik unterlegt. Der Betroffene und seine Familie wurden in der Folge nicht nur auf Facebook und YouTube rassistisch beschimpft und bedroht, sondern auch in der Nachbarschaft angegriffen und beleidigt. Als er über einen Anwalt versuchte die Löschung des Videos zu erzwingen, setzte die AfD Fraktion nach und veröffentlichte ein Video mit privaten Aufnahmen des Betroffenen von dessen Facebook-Account. Dies zeigt, wie weit die AfD hierbei geht und dass es solchen Videoteams um Psychoterror und Mobbing gegen Menschen geht. Dialog oder Interviews spielen in solchen Situationen keine Rolle.
WHAT TO DO?
Umgang mit rechten YouTuber_innen und Möglichkeiten antifaschistischer Gegenstrategien
Speziell das Beispiel aus Reinickendorf zeigt, dass es im Gespräch mit der AfD, rechten YouTuber_innen oder rechten ‚Journalist_innen‘ nichts zu gewinnen gibt. Diese Leute haben eine Agenda. Wie die scheinbare ‚Diskussion‘ vor der Kamera ausgehen soll, steht bereits lange vorher fest. Das Material wird im Zweifel im Nachhinein durch Schnitt oder Ton so manipuliert, bis das Ergebnis die gewünschte Aussage liefert. Es geht der AfD und rechten YouTuber_innen weder um einen Dialog, noch um ein Interview. Es geht beiden ausschließlich darum, neuen Content für die eigene Propaganda zu bekommen und Linke und Antifaschist_innen einzuschüchtern und zu diffamieren.
Es gilt also für solche Situationen noch einmal mehr: Es gibt mit Nazis nichts zu bereden!
So unangenehm der Gedanke sein mag: Auf unseren Demos, Veranstaltungen und in unseren Räumen ist es wichtig hinzusehen, wer neben uns sitzt oder steht. Nicht nur Staat und Repressionsorgane haben ein Interesse an Informationen, sondern auch politische Gegner_innen. Natürlich lebt eine politische Gruppe von neuen Leuten und interessierten Menschen, aber speziell bei offenen Treffen sollte hinterfragt werden, welche Themen besprochen werden können und wer anwesend ist. Ein gesundes Maß an Bewusstsein dieser Thematik und ein kritisches Auge können schon viel helfen.
Auf Demos:
- Achtet auf Menschen die filmen
- Gebt keine Interviews/Statements ab, wenn ihr nicht 100% sicher seid, mit wem ihr sprecht
- Regenschirme, kleine Transpis und Schilder eignen sich gut, um sich spontan vor Kameras abzuschirmen
- Bei Demos/Aktionen am Abend oder bei Nacht können kleine Taschenlampen oder Fahrradleuchten Handys und Kameras blenden, und so das Filmen erschweren
- Bedenkt bei direkten Aktionen gegen Handys/Kameras, dass ihr dabei gefilmt werdet
- Falls ihr rechte Filmer_innen erkannt habt, meldet dies den Ordner_innen oder Veranstalter_innen
- Ladet keine eigenen Videos oder unverpixelte Fotos im Internet hoch
- Im besten Fall nehmt ihr zu Demos gar kein Handy mit
In offenen Räumen/Treffen:
- Versucht immer im Kopf zu behalten, dass ihr auf einem offenen Treffen seid
- Hinterfragt, ob Themen/Fragestellungen wirklich auf ein offenes Treffen gehören
- Wenn ihr euch unsicher seid, ob ihr eine Person erkannt habt, sprecht mit einer Vertrauensperson, oder versucht es im Internet zu verifizieren
- Wenn Personen sicher erkannt werden, macht von eurem Hausrecht gebrauch, bzw. sprecht die Veranstalter_innen darauf an, dies zu tun und sorgt dafür, dass sich die Person verpisst
Nazis raus aus unseren Räumen, Demos, Straßen und Städten!
Für einen konsequenten Antifaschismus – digital und analog!
Auf Indymedia findet ihr einen Infoflyer, um Menschen auf Demos, Veranstaltungen und offenen Treffen für das Thema zu sensibilisieren.
Quelle: https://de.indymedia.org/node/28593